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Münchener Stadtbuch

XLVIII. Die Beterin an der Mariensäule.

Adelheid, tagtäglich an der Mariensäule in derselben sehr abgebleichten Kleidung, mit ihrem Bündel und Regenschirme, und harrte den ganzen Tag an dieser Stelle, mit trüben und stieren Blicken zum Marienbilde hinaufstarrend. Weder der Hohn und Spott der Menschen, noch die Elemente, Sturm, Regen oder Schnee konnten sie verscheuchen. Fragte man sie, wen sie suche oder erwarte, so antwortete sie mit abgestorbener eintöniger Stimme: „Mein Kind!" Anfangs war ihr tägliches Erscheinen an dieser Stelle dem Münchener Publikum auffallend; nach und nach gewöhnte man sich an ihre Erscheinung, und ließ ihr Treiben unbehelligt, als das einer Geisteskranken. Im Volke hieß sie allgemein „die stille Beterin." Nach ungefähr zehn Jahren änderte sie ihre Lebensweise nur dahin ab, daß sie nach Verlauf einer Woche acht Tage lang ausblieb; sie wanderte von der Mariensäule regelmäßig nach Altötting zur dortigen Gnadenkirche und kam dann wieder regelmäßig nach München zurück, um nach Verlauf von acht Tagen ihre Wallfahrt nach Altötting aufs neue anzutreten.

Dieses geschah wieder eine lange Reihe von Jahren, bis sie auf einmal verschwunden und verschollen war. Man hielt sie längst für todt und das Publikum hatte sie bereits vergessen, als unerwartet plötzlich im Jahre 1853 bekannt wurde, daß durch die Gnade Königs Ludwig I. ein armes altes Weiblein in das Josefspital eingekauft wurde, welches Adelheid, die stille Beterin, war.

Dort lag sie, krank an Geist und Körper, ohne jegliche Erinnerung an ihre erlebten traurigen Schicksale, ruhig und still auf ihrem Lager, bis sie endlich am

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