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Ein Jahrhundert München

Mangelnde Geselligkeit und Gastlichkeit

Christian Müller, ein scharfer und guter Beobachter, spricht sich über das gesellige Leben im München des Jahres 1816 folgendermaßen aus: Ich glaube nicht unrecht zu haben, wenn ich das gesellige Leben der Münchner km ganzen nicht preise. Es hat etwas Trockenes, Einförmiges, Kaltes und Un- graziöses, was nicht wohl tut. Schöne Geselligkeit und Freudigkeit ist ja überhaupt keiner von den Volkscharakterzügen im bayerischen Flachlande. Es kommt mir vor, als sei diese Erscheinung in München nicht schwer zu erklären. Was kann aus der Vernachlässigung äußerer Formen, aus Trockenheit, Bequemlichkeit und Kälte des Gefühls von Sekten der Männer und aus dem Mangel an Gemüts- und Geistes- bildung, aus dem hämischen Intoleranzsinne und der allzugroßen Nachsicht von Seiten der Frauen, Schönes und Erfreuliches für das gesellige Leben entstehen? Das mehr und minder Angenehme richtet sich nach dem Verhältnisse dieser Züge zueinander. Sind sie stark ausgeprägt, so trauert der Genius der Geselligkeit, sind sie durch sorgfältigere Erziehung, durch glückliche natürliche Anlagen und erhebenden Umgang weniger schreiend oder gar verwischt, so werden die Grazien gern in dem Kreise verweilen.

So findet auch hier Stufenfolge statt, und zwischen dem reinen, wärmenden Sonnen- lichte und der arabischen, kalten Nacht sieht der Beobachter eine Menge Schattie- rungen und Gradationen.

Auch den Sinn der Gastfreundschaft haben die Münchner noch nicht richtig und menschlich genug erfaßt. Die Mehrsten halten Gastlichkeit und Gastereien für gleich- bedeutend. Während sie die letzteren aus hundert sehr guten Gründen scheuen und vermeiden, erdrücken sie die schöne Tugend, die doch nicht an Bankette gebunden ist, um freudig und beseligend aus dem Leben ins Leben zu wirken. Hundert gesellige Vereinigungen, so viele freundliche Annäherungen von guten Familien, so manche Lust, Liebe und Freude unterbleibt, weil man die Kosten scheut, die damit verbunden sein sollen. Die fremden Familien, die km Raume von zehn bis zwölf Jahren nach München gezogen sind und sich da festgesetzt haben, können als Beispiel dienen, wie wenig die Gastfreundschaft Aufwand will. Sie sehen fast alle Abend Gesell- schaft bei sich, man kommt, man geht nach Lust, und der Aufwand einer Tasse Tee und eines Butterbrotes sind die ganzen Kosten für einen Gast. Die schöne Sitte anderer Städte, besonders im hohen Norden, einen bestimmten Tag zu haben, wo man seine Freunde ohne wiederholte Einladung bei sich sieht, diese freundliche Sitte haben meines Wissens in München nur vier große Häuser angenommen, wo aber die Gastlichkeit mit der Gasterei schon der Ehre des Hauses wegen eng verbunden ist. Dieselbe Gewohnheit könnten hundert Häuser des wohlhabenden Bürgerstandcs an- nehmen und allen Luxus davon trennen, niemand würde sich darüber beklagen, nie- mand deswegen ausbleiben. Und wie unendlich würde die Geselligkeit gerade durch Vereinigungen dieser Art gewinnen, jene wahre und schöne Geselligkeit, die große, geputzte Zirkel ohnehin gern meidet und sich am besten in kleinen, traulichen Vereinen gefällt, wo das Herz sich aufschließen kann in Vertrauen, Liebe und Freude! Daß sich des Abends Familien unerwartet besuchten, ohne sich vorher melden zu lassen und angenommen worden zu sein, daß sich nun traulich die Frauen und Mädchen zusammensehten und über dieses und jenes kosten und schäkerten, daß die Männer nach Beendigung des gesellschaftlichen Prodromus — des Gesprächs über die Politik des Tages — sich in die Unterhaltung der Frauen mischten, daß daraus ein freund- liches Ganzes, durch Wohlwollen, Laune und Scherz gewürzt, entstände, ach, das erlebt man bei den eigentlichen Münchnern nicht und wird es wohl nie erleben, so- lange die Männer so bequem und trocken, die Frauen und Mädchen aber untereinander so feindselig sind! 

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