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Mayer - Münchner Stadtbuch (1868)
Eine reiche und stete Quelle der tiefsten und innigsten Empfindungen ist die Erinnerung an unsere vorangegangenen Lieben. Mag auch der erste Eindruck beim Hintritte derselben ein noch so gewaltiger sein, und die entsetzliche Schwere des eben erlittenen Verlustes uns noch so sehr das Herz durchbohren, uns fast erdrücken und selbst der Verzweiflung nahe bringen, — die Zeit, diese mächtige Zauberin, lindert allmählig mit ihrem versöhnenden Hauche unser, herbes Weh, legt sich wie ein Balsam auf unser wundes Herz, so daß endlich ein milder stiller Schmerz in unsere Brust sich niedersenkt, mit dem sich der erhebende Trost verbindet, daß wir unsere verlorenen Lieben dereinst jenseits wiedersehen und mit ihnen werden vereinigt werden.
Eine besondere Gelegenheit zur Erneuerung dieser reinen und erhabenen Empfindungen und an Erinnerung bietet das Fest aller Seelen vorzugsweise dar, das jährlich am 2. November gefeiert wird. Die Kirche selbst betet an diesem Tage für die Verstorbenen und erinnert uns in der Epistel der heiligen Messe, daß alles Verwesliche anziehen muß die Unverweslichkeit und das Sterbliche die Unsterblichkeit, und der Tod verschlungen ist im Siege! — Zudem ist aber auch gerade diese Zeit wie keine andere geeignet, uns an die Vergänglichkeit alles Bestehenden eindringlichst zu erinnern; die goldene herrliche Zeit des Sommers ist verschwunden, rauhe Lüfte und unfreundliche Stürme, die Vorboten des herannahenden Winters wehen uns erkältend an, der grüne Schmuck der Bäume hat sich in fahle, gelbe und röthliche Blätter umgewandelt, die raschelnd und wirbelnd zu Boden fallen; einzelne Schneeflocken bedeuten uns, daß bald das weiße Leichenkleid des Winters über die ganze Natur ausgebreitet liegen wird!
Diese sich an diesem Feste mit erneuter Macht erhebenden und aufdrängenden Empfindungen und Erinnerungen zu hegen und zu pflegen und auch äusserlich zu zeigen, liegt dem menschlichen Gefühle so nahe, und es hat sich daher namentlich auch in München der schöne Gebrauch gebildet, das wehmüthige und rührende Fest aller Seelen dem Andenken der lieben Verstorbenen zu widmen und zu feiern.
Schon am Tage zuvor, am 1. November, dem Feste Allerheiligen, werden auf dem allgemeinen Freithofe, in München sinnig „Gottesacker" genannt, die Gräber von den Angehörigen der dort Ruhenden festlichst ge
schmückt. Blumen aller Art, welche diese späte Jahreszeit noch darbietet, insbesonders die in vielen Farben spielenden Astern, bedecken in sinniger Anordnung alle Grabhügel; Blatt- und Zierpflanzen sind um dieselben symmetrisch gruppirt, Gewinde von Epheu und Immergrün oder von schwellendem Moose, mit Blumen und den rothen Beeren der Vogelkirsche untermischt, schlingen sich um die Grabsteine. Blumenkränze mit Anfangsbuchstaben der Namen der Verstorbenen von gelben Strohblumen sind überall liegend und hängend angebracht, und dazwischen leuchten zahllose brennende Lichter in farbigen Glaslampen. Der ganze große Freithof ist in einen prachtvollen Blumengarten umgewandelt, kein Grab ist ungeziert; während der Reiche seine Familiengräber und Grüfte mit allem Reichthume der Gartenkunst und mit erotischen Gewächsen verschwenderisch schmückt und glänzenden Prunk zur Schau trägt, versäumt auch die arme Wittwe oder Mutter nicht, ein einfaches Kränzlein und bescheidenes Lichtlein auf das Grab ihres Gatten oder Kindes zu stellen, bei dem ihr verwaistes Herz zu neuer Liebe entflammt und ihr feuchtes Auge mit Sehnsucht über das stille Grab hinweg zu dem Himmel aufblickt.
Da strömen schon am 1. November tausende und aber tausende der Einwohner Münchens hinaus, und ebenso am nächsten Vormittage des Allerseelentages bis Mittag, wo das Fest endet. In dicht gedrängten Schaaren windet sich die Menschenmenge durch die vielen Gänge des Gottesackers, an diesem oder jenem Grabe, das die Ueberreste ihrer Lieben einschließt, längere Zeit im Gebete oder in wehmüthiger Erinnerung verweilend, oder auch nur schauend
und die Pracht des Gräberschmuckes bewundernd. Und in der That bietet sich auch für den bloßen sinnigen Besucher und Beschauer, dem kein Grab theuere Reste einschließt, unendlich viel des Anregenden und Interessanten dar. Wie viele große, in Kunst und Wissenschaft oder im Staate hervorragende Männer ruhen hier auf diesem weiten Felde des Todes im Schooße der kühlen Erde; welche Namen blicken uns von diesen Grabsteinen herab, deren Ruhm noch in fernen Zeiten leuchten wird, deren Hand aber, die ihre Werke einst gefertigt, hier modert! Da schlummern der bayerische Geschichtsforscher Lorenz Westenrieder (+1829), Fraunhofer(+1826), Reichenbach(+1826), Görres (+1848), Utzschneider (+1840), Sennefelder, der Erfinder des Steindruckes (+1834), Leo von Klenze (+1864), Schwanthaler (+1848), Thiersch (+1860), von Schubert (+ 1860) und so viele andere. Den meisten dieser berühmten Männer sind theils im Raume des offenen Gottesackers, theils in den Arkaden Denkmäler von Erz und Marmor gesetzt, verfertigt von den größten Künstlern. Ein besonders ergreifendes Gefühl erweckt der große Weihbrunnkessel von Erz, errichtet im Jahre 1831, mit der Umschrift: „Den im Jahre 1705 am heiligen Christtage den 25. Dezember im Kampfe für Fürst und Vaterland gefallenen Oberländer Bauern." Mehr als tausend heldenmüthige Kämpfer ruhen unter diesem Denkmale!
Diese Fülle der herrlichsten Denkmäler und diese imposanten Hallen der Arkaden schufen den Münchener Freithof zu einen Begräbnißort, der an Großartigkeit in Deutschland nicht seines Gleichen aufzuweisen hat.
Diese Verbindung der Kunst und Pracht mit der Zier des reichsten Blumen- und Blätterschmuckes an diesem Festtage verleiht dem Kirchhofe einen eigenthümlichen unnennbaren Reiz und erzeugt einen Eindruck, daß wir uns in Zaubergärten versetzt glauben. Nicht selten beliebt es aber der Natur in dieser spaten Jahreszeit, in diesen Zauber einen neckischen Contrast hineinzuwerfen; während wir uns durch die Fülle der Blumen in den Frühling versetzt wähnen, wehen leichte Schneeflocken vom Himmel herab, und hüllen die anmuthigen Kinder der Flora in eine weiße Schneedecke.
An diesem Tage sind auch die Familiengrüfte der bayerischen Fürsten in der Frauenkirche (woselbst die älteste), der St. Michaels- und der Theatiner-Hofkirche für Jedermann geöffnet. Auch hier ist der schaulustige Zudrang des Publikums ein ausserordentlicher. Da liegen die Ueberreste Kaiser Ludwigs des Bayern, des Herzoges Albert IV., des Stifters der Alleinherrschaft in Bayern, des großen Kurfürsten Maximilian I., des Türkenbezwingers Max Emanuel, des Königes Maximilian Josef I., genannt „das beste Herz," und des Prinzen Eugen, Herzogs von Leuchtenberg, Stiefsohn des Kaisers Napoleon I. und einst Vicekönig von Italien. Unser größtes Interesse nimmt aber in Anspruch das Grabmal des jüngst verstorbenen Königs, des edlen Maximilian II. in der eigens erbauten Grabkapelle bei den Theatinern. Fünf Jahrhunderte umfassen diese Fürstengrüfte! An diesen Särgen stehend, welche Masse geschichtlicher Ereignisse, welche Umwandlungen ziehen vor unserm Geiste vorüber! Dieser Blick in die Vergangenheit erfüllt uns mit tiefem wundersamen Schauer!