Veranstaltungen - Geschichte - Kunst & Denkmal
Die Schlafwandler ist der Titel einer ab 1930 erschienenen Romantrilogie von Hermann Broch über den Zerfall gesellschaftlicher Werte. Die Handlungen der drei personell miteinander verwobenen Teile reicht vom Beginn bis zum Ende des wilhelminischen Zeitalters.
Während die Romanteile von 1888 in Sprache, Darstellungsweise und Aufbau dem Realismus gleichen, ist der Teil von 1918 auch formal ein aufgelöster Roman. Genauso wie sich die Werte aufgelöst haben, hat sich auch der Roman in Parallelgeschichten aufgelöst und bindet sich an keine Konvention.
Von Pasenow glaubt an die alten Werte, auch wenn sie nur noch „romantisch“ (vgl. den Untertitel zum 1. Roman) verklärt existieren. Esch (2. Roman) versucht immer wieder, gegen das Unrecht in der Welt anzukämpfen; er hofft wie ein Schlafwandler auf eine Erneuerung und Erlösung. Jedoch erkennt er nach langer Suche, „daß im Realen niemals Erfüllung sein könnte“. Gegenfigur zu Pasenow und Esch ist Eduard von Bertrand, ein beinahe zynischer Intellektueller, der schließlich Selbstmord begeht. Huguenau, der weder Moral noch Glauben an etwas besitzt, steht für die Verkommenheit eines Lebens ohne Werte. Als Opportunist verkörpert er den Tiefpunkt der neuen Zeit ohne Wertesystem. In seiner „Sachlichkeit“ (Untertitel des 3. Romans), seiner Bindung an bürgerliche Konventionen (als „philiströs“ von Broch verurteilt) und in einer vom Kommerz geprägten Welt (als Angehöriger eines kaufmännischen „Partialsystems“) stellt er den Prototyp des Menschen der Moderne dar. So manifestiert sich der Werteverlust in allen drei Titelfiguren. Die philosophischen Reflexionen des dritten Romans müssen als Ergänzung und Gegengewicht des erzählten Geschehens begriffen werden: Erst wenn die Figuren mit ihrem Handeln in die großen Prozesse der Veränderung seit der Renaissance hineingestellt werden, kann man den Sinn ihres Lebens und Scheiterns begreifen.
Das Motiv des Schlafwandelns, das in „Esch oder die Anarchie“ eingeführt worden ist, taucht in „Huguenau“ mehrmals auf, z. B. im Zusammenhang mit Wilhelm Haguenau oder Hanna Wendling. Der Erzähler der „Geschichte des Heilsarmeemädchens“ (77) erklärt den Begriff als ein Körpergefühl, das ihm die Gewissheit schenke, „in einer Art Wirklichkeit zweiter Stufe zu leben, daß eine Art unwirklicher Wirklichkeit, wirklicher Unwirklichkeit angehoben hatte, und sie durchrieselte mich mit sonderbarer Freudigkeit. Es war eine Art Schwebezustand zwischen Noch-nicht-Wissen und Schon-Wissen, es war Sinnbild, das sich nochmals versinnbildlichte, ein Schlafwandeln, das ins Helle führte, Angst, die sich aufhob und doch wieder aus sich selbst erneuerte.“[50] Im metaphorischen Kapitel, in dem das kleine Mädchen Marguerite von zu Hause weggelaufen und am Abend in ein fremdes Dorf gelangt ist, spricht der auktoriale Erzähler davon, dass „das Schlafwandeln der Unendlichkeit“ über sie gekommen ist und sie nie mehr freigeben wird (82).
„Der soziale Querschnitt, der in den drei Bänden gezogen ist, offenbart fast in allen Charakteren sich als Nazi-Nährboden.“ (Hermann Broch) Dazu passt der kritische Hinweis des Erzählers (am Ende der Trilogie) auf den Wunsch des orientierungslos gewordenen Menschen nach einem Führer, dem „Heilsbringer, der in seinem eigenen Tun das unbegreifbare Geschehen dieser Zeit sinnvoll machen wird, auf daß die Zeit neu gezählt werde“. Bald nach Fertigstellung des zwischen 1928 und 1931 geschriebenen Romans sollte dieser Wunsch in verhängnisvoller Weise Wirklichkeit werden.